Umgekehrte Psychologie im Pen & Paper
Aaron BotterRechtschaffen, neutral und chaotisch – das sind die Charakterausrichtungen in Dungeons & Dragons, Shadowdark und viele andere Spiele. Während Spielende theoretisch jede dieser Ausrichtungen annehmen können, fallen viele meiner Gruppen in die chaotische Kategorie. Sie ziehen es vor, Dinge kaputt zu machen, vom Weg abzukommen und Erwartungen zu brechen. Wenn sich ein geheimnisvoller Adliger in der dunklen Ecke der Taverne eine Pfeife raucht, stehlen sie sein Geld, Schloss und seine Frau, bevor sie sich überhaupt die Quest anhören, von der er ihnen erzählen wollte.
Möglicherweise fallen nicht alle deiner Spielenden genau in diese Kategorie. Aber ich bin mir sicher, dass du mindestens einer/eine dieser Art schon mal bei dir am Tisch saß. Das ist zwar an sich kein Problem, kann aber auf Dauer ein wenig Kopfschmerzen verursachen.
Session für chaotische Spielende sind schwer vorzubereiten
Einerseits sind chaotische Spielende großartig. Ich liebe anti-autoritäre Botschaften - meine Spielenden sollen den Adel ruhig bestehlen. Andererseits ist es dadurch aber auch schwierig, Quests zu entwerfen oder die Aktionen der Gruppe in einer bestimmten Sitzung vorherzusagen. Ich improvisiere zwar gerne, aber ich möchte nicht ständig improvisieren. Wenn ich eine Session vorbereite, wo die Gruppe Wachen auf einem Ball sind, möchte ich nicht, dass sie jedes Mal Blödsinn machen und einen Drachen belästigen.
Glücklicherweise gibt es eine Methode, die es einem ermöglicht, eine Gruppe auf die gleiche Weise zu steuern, wie es ein rechtschaffender Questgeber tun würde. Wenn sie immer das Gegenteil von dem tun, was man ihnen sagt, macht sie das auf andere Weise etwas vorhersehbar. Hier kommt die Macht der umgekehrten Psychologie ins Spiel.
Umgekehrte Psychologie
Angenommen, deine Spielenden würden nie auf die Quest eines Adligen gehen, ihn aber durchaus bestehlen. Du kannst nun die Adligen-Quest so strukturieren, dass es offensichtliche Möglichkeiten offenlässt, eben das zu tun! Wenn die Spielenden die Schatzkammer bewachen sollen, stinkt das geradezu nach kriminellen Möglichkeiten. Wenn du dann noch nebenher erwähnst, dass die meisten anderen Wachen auf dem Ball beschäftigt sein werden, wirst du die Dollar-Zeichen in den Augen der Spielenden sehen. Wenn du besonders frech bist, könntest du sogar sugerrieren, dass die Prinzessin mehr an einem Archetypen interessiert ist, der durch einen oder mehrere der Charaktere der Spielenden verkörpert wird.
Auf diese Weise ist die Quest nun so strukturiert, das sie ganz normal bespielt werden kann - aber sie wird noch interessanter, wenn die Spielenden "aus der Norm" ausbrechen und sich den Schatz oder sogar die Prinzessin unter den Nagel reißen.
Die verbotende Abteilung
Es gibt wohl kaum einen größeren Magneten für Spielende als Areale, die man nicht betreten darf. Was auch immer sich auf der anderen Seite von hohen Zäunen und Wachpatroullien befindet, wird das Interesse der chaotischen Spielenden wecken. Das könnte dir auch endlich die Möglichkeit geben, über dein (super geheimes und überhaupt gar nicht für die Spielenden gedachtes) Worldbuilding zu sprechen!
Wenn du deine Spielwelt etwas widerspenstig gestaltest, kannst du deinen Spielenden das Gefühl geben, außerhalb des vorgegebenen Pfades zu agieren. Dieses Gefühl ist eines der hauptsächlichen Vorteile von Pen and Paper gegenüber Videospielen, und du kannst es erzeugen, ohne dabei wirklich in komplette Improvisation gedrängt zu werden.
Bild von Roselysium für mein unveröffentliches Buch 'A Witches Guide to Grimm's Keep Academy', wo ich umgekehrte Psychologie desöfteren benutze, um die frechen Schüler*innen zu motivieren
Mehrere Pfade anbieten
Einer der Gründe, warum deine chaotischen Spielenden deine vorgegebenen Pfade verlassen, könnte der Wunsch nach einem Gefühl von Kontrolle sein. Solange du stets nur eine Quest und einen Weg anbietest, können sie das Gefühl bekommen, dass du sie in eine bestimmte Richtung lenken möchtest.
Wenn du stattdessen immer zwei bis drei Möglichkeiten zum Handeln anbietest, haben sie eine Auswahl. Damit ist es wahrscheinlicher, dass sie sich weiter innerhalb deines vorbereiteten Bereichs bewegen, ohne das Gefühl von Kontrolle zu verlieren. Wenn wir zurück zu dem Beispiel des Balls gehen, könntest du beispielsweise zwei Quests anbieten: Der Adlige möchte, dass die Spielenden des Tresor verteidigen und die Diebesgilde möchte, dass sie dort einbrechen.
Nun hast du beide mögliche Interessen der Gruppe zu diesem Thema abgedeckt, was die Wahrscheinlichkeit, dass sie mit deinem vorbereiteten Spielbereich interagieren, erhöht. Solange sich deine Möglichkeiten sehr unterschiedlich anfühlen (also unterschiedliche Vibes und unterschiedliches Gameplay offerieren), aber im Endeffekt in demselben Spielareal stattfinden, kannst du deine Vorbereitungszeit minimal halten und dennoch ein Gefühl von Freiheit anbieten.
Konklusion
Umgekehrte Psychologie ist ein mächtiges Werkzeug, um chaotische Spielende innerhalb deiner vorbereiteten Spielwelten zu halten. Verwende ihre Anti-Haltung zu deinem Vorteil und erschaffe Szenarien, in denen alle Entscheidungen die Spielenden im gewünschten Bereich halten und trotzdem unterschiedliche Erfahrungen bieten können. Auf diese Weise fühlen sich deine Spielenden frei, chaotisch und du musst weder mehr Vorbereiten noch viel Improvisieren.
Wenn du Interesse an mehr Artikeln dieser Art hast, les doch gerne ein paar andere Artikel aus diesem Blog. Sie erscheinen zwar immer erst auf Englisch, aber die Mehrheit ist bereits auf Deutsch übersetzt. Hier habe ich beispielsweise einen Artikel über den besten Dungeon, den du nie gespielt hast. Dort wird umgekehrte Psychologie ebenfalls benutzt, um die Spielenden in bestimmte Entscheidungen zu locken, schau also gerne mal rein!